Freitag, 23. November 2012

Leo der Große über die Armut im Geiste und die Demut

Sermo XCV. Homilie über die Seligkeiten der Bergpredigt.
Fortsetzung von hier

2.

Was Christus mit seiner Lehre beabsichtigt, das sagen uns seine heiligen Aussprüche, so dass alle, die zur ewigen Glückseligkeit gelangen wollen, die Stufen kennen, die sie zum höchsten Glücke emporführen: "Selig",so sprach er, "sind die Armen im Geiste; denn ihrer ist das Himmelreich!"1
Es könnte vielleicht zweifelhaft sein, von welchen Armen die Ewige Wahrheit spricht, wenn sie den Worten: "Selig sind die Armen!" nichts über die Art hinzufügte, die man darunter zu verstehen hat. 

Es könnte scheinen, dass, um den Himmel zu verdienen, die Not allein schon ausreicht, die viele unter dem Drucke schwerer und harter Verhältnisse zu ertragen haben. 
Da sie aber sagt: "Selig sind die Armen im Geiste!", so bringt sie damit ganz deutlich zum Ausdruck, dass jenen das Himmelreich zuteil werden soll, die mehr die Demut ihrer Gesinnung als der Mangel an Mitteln empfiehlt. 
Es kann aber nicht bestritten werden, dass die Tugend der Demut leichter von den Armen als von den Reichen erworben wird; denn bei jenen bringt es ihre Dürftigkeit mit sich, dass sie sich gerne unterordnen, während bei den Reichen Überhebung naheliegt. 

Trotzdem findet man auch bei sehr vielen Begüterten das Streben, ihren Überfluss nicht zur Befriedigung maßlosen Hochmutes, sondern zu Werken der Nächstenliebe zu verwenden und das als größten Gewinn zu betrachten, was sie zur Linderung fremden Elends aufgewendet haben. 
Jeder Klasse und jedem Stande ist die Möglichkeit geboten, sich diese Tugenden zu eigen zu machen, weil auch jene die gleiche Gesinnung haben können, die sich nicht des gleichen Wohlstandes erfreuen. Wo sich der Besitz an geistigen Gütern als derselbe erweist, da kommt es nicht darauf an, ob die Mittel hier auf Erden die nämlichen* sind oder nicht. 
Glückselig ist demnach jene Armut, die sich nicht von der Liebe zur Welt betören lässt, die nicht nach irdischem Gute verlangt, sondern sich reiche Schätze für den Himmel erwerben will.
1: Mt 5,3;Lk 6,20

Quelle
*altes Wort für: die gleichen

3.

Ein Beispiel solch hochherziger Armut gaben uns nächst dem Herrn zuerst die Apostel. Ausnahmslos verließen sie auf das Wort ihres göttlichen Meisters alles, was sie hatten. Sie entsagten dem Fischfange und wurden dafür begeisterte Menschenfischer1
Ihr Glaube spornte viele an, es ihnen gleich zu tun, da in jener frühen Zeit der Kirche "alle Gläubigen ein Herz und eine Seele waren". Alle verteilten ihre Habe und ihren Besitz und erwarben sich durch diese entsagende Armut wertvolle himmlische Güter. 

Den Worten der Apostel gemäß freuten sie sich, nichts Irdisches ihr eigen zu nennen, sondern in Christus ihren ganzen Reichtum zu sehen. Darum sagt auch der hochselige Apostel Petrus, als ihm bei seinem Gange zum Tempel ein Lahmer um ein Almosen ansprach: "Silber und Gold habe ich nicht, was ich aber besitze, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazareners, steh auf und wandle!"2 

Was gibt es Edleres als solche Demut, was Reicheres als solche Armut? Der Apostel kann ihm zwar keine Geldunterstützung geben, wohl aber etwas, was seinem Leibe frommt. Der vom Mutterschoße an krüppelhaft war, den machte er durch sein Wort gesund. 
Er reichte ihm zwar kein Geldstück mit dem Bild des Kaisers, stellte aber dafür das Bild Christi in ihm wieder her. Der Reichtum dieser Schätze kam indes nicht nur dem zustatten, der gehend gemacht wurde, sondern auch den fünftausend Männern, die sich damals auf die Rede des Apostels hin infolge dieser wunderbaren Gesundung zum Herrn bekannten3
So spendete der arme Petrus, der nichts besaß, was er dem Bittenden hätte geben können, eine solche Fülle der göttlichen Gnade, daß er die Herzen so vieler Tausender heilte, wie er die Füße eines einzigen gesund gemacht hatte. Er machte also die zu rührigen Parteigängern Christi, die er infolge ihres jüdischen Unglaubens gelähmt fand.

1: vgl.Mt 4,19 ff

2: Apg 3,1.ff
3: Apg 4,4


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